Neue Zeit

oder: Über sich hinauswachsen tut verdammt weh

2018?

Hat quasi nicht existiert.

War da was?

Auch egal.

Verändert hat sich trotzdem alles. Mit der Außenwelt wäre ich gar nicht klargekommen.

 

Warum treibt es mich jetzt zum Schreiben?

Ich habe jetzt ein Jahr lang eine Trauertherapie absolviert. (Das klingt wirklich toll dafür, dass wir sehr viel in Sesseln saßen und Tee tranken.) Und das hat wieder alles verändert. Oder eher: es hat mich verändert. Ich möchte die Texte alle hier trotzdem so stehen lassen, denn die Mama von Richard in mir ist immer noch stolz auf sie und will sie genau so haben. Aber ein paar Veränderungen will ich hier dokumentieren und eine Veränderung zu sehen gibt vielleicht auch denen Hoffnung die gerade noch keine sehen können.


Therapie macht wirklich so viel Sinn. Das weiß man, wenn man fertig damit ist.

 

Ich habe lange gebraucht bis ich mich zu einer Therapie entschied. Es war im Juni 2018, also fast ein halbes Jahr nach Richards Tod. Das ist sicher auch dem zuschulden, dass wir in der Phase von Richards Krankheit und Tod sehr wenig schlechte oder gar keine Unterstützung von außerhalb angeboten bekamen und die Erfahrung daher eher abschreckend wirkte. Der Therapeut des Krankenhauses meldete sich entweder gar nicht oder Monate später mit der Frage ob jetzt alles wieder okay sei - darauf kann man dann auch verzichten.

 

Gefunden habe ich meine Therapeutin über das Bestattungsunternehmen welches Richards Beerdigung ausrichtete. Trauerbegleitung gehört hier zur Unternehmensphilosophie und wurde uns beiden gleich angeboten. Ich war einfach sehr dankbar dafür, dass ich etwas hatte was ich im Hinterkopf behalten konnte, falls ich es doch brauchte.

 

Schleichwerbung aus voller Überzeugung:

https://www.anankebestattungen.de/

https://www.veid.de/

http://www.wolfstraene.de/

 

 Das Wichtigste was ich gelernt habe:

Niemand hat mich gefragt, ob ich gerne alle Aufgaben und Verantwortungen einer Mutter ablegen will. Es ist mir auf grausame Art passiert. Und ich kann einfach nichts dafür. Ich musste erstmal lernen, etwas Anderes zu sein. Wieder zu sein. Wieder gern ich selbst zu sein. Auch wenn "Ich" jetzt etwas ganz anderes bedeutet als noch vor vier Jahren.

 

Trauerarbeit ist etwas sehr Individuelles - jeder trauert anders und muss das auch anders tun. Der beste Ehemann von Welt und ich haben uns eine ganz Weile sehr auseinander gelebt, weil wir beide sehr unterschiedlich damit umgehen - weil wir einfach sehr unterschiedlich sind.

Ich konnte schon immer besser wütend sein als traurig. Ich war so wütend auf die Welt und auf Gott und auf meinen Mann. Auf meine Schwiegereltern, auf meine Eltern, auf alle meine Freunde die einfach ihr Leben leben und nicht sehen wie wertvoll das doch ist. Auf alle kleinen Probleme die mich so gar nicht mehr berühren, stattdessen nur noch nerven und langweilen. Auf jeden der mich fragte wie es mir geht und der mir sagte, dass die Zeit Wunden heilt.

 

Zeit heilt keine Wunden. Sie rückt nur das Unheilbare aus dem Mittelpunkt.

 

Meine Therapeutin hat mir erstmal zugehört und versucht zu verstehen, woher so viel Wut kommt. Wir haben langsam angefangen und den Anfang meiner Geschichte gesucht. Ich bin ein Mensch, ich muss Dinge verstehen. Ich komme immer besser damit klar, wenn ich den Grund kenne - auch wenn dieser einer verqueren Logik entspringt, es ist eine Logik. Das kann ich akzeptieren.

Trauerarbeit hieß für mich, meine Geschichte aufzuarbeiten. Und darin den Grund zu finden, warum ich so wütend bin und warum die Wut so bestimmend ist und ich gar nicht mit der Trauer anfangen kann, weil so viel Wut darüber liegt. Aber auch, warum ich Familie so lebe wie ich es mache. Warum ich das Bedürfnis habe, sie groß und bunt und verrückt zu halten. Warum ich neben zwei leiblichen Schwestern noch zwei Adoptivbrüder auf meinem Weg einsammeln musste und mir einen Ehemann gesucht habe mit so viel Gepäck, warum alle Freunde von mir hart an der Grenze zum Durchgeknalltsein stehen und warum ich das schon immer alles so gut fand und instinktiv so gemacht habe.

Die Antwort ist einfach, hat mich aber trotzdem überrascht: Weil ich es kann. Ich bin stark genug dafür. Das hat mich grundlegend verändert. Ich sehe mich heute mit anderen Augen. Ich kann mich heute lieben, wirklich lieben, mit all meinen Fehlern und vor allem all meinen Stärken - ich bin richtig so genau wie ich bin. Ich rechtfertige mich nicht und ich passe mich nicht an.

 

"Wenn jeder an sich selbst denkt, dann ist an alle gedacht." - Volksmund

"Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." - 3. Buch Mose Vers 18

"Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." - Immanuel Kant

 

Das ist die Essenz dessen was ich gelernt habe.

Denk an dich selbst, hör auf deine Bedürfnisse und deine Gefühle, du bist der einzige Mensch der dich wirklich glücklich machen kann.

Liebe erstmal dich selbst, dann kannst du deine Umgebung genauso lieben. Nur ein glücklicher Mensch kann Glück verbreiten.

Das Recht gilt für jeden, jeder darf seine eigene Art von Vollidiot sein. Niemand hat das zu bewerten, das steht keinem zu.

 

Es war an der Zeit, außerhalb der Box zu denken.

Es war an der Zeit, ein neues Leben anzufangen. Weil mich das Leben anscheinend so sehr wollte. Wie soll man sich denn dagegen wehren?

 

Eine Ehe? Achja, da war ja noch was.

 

Etwa ein Jahr habe ich gebraucht. Dann war ich an einem Punkt an dem es für mich hätte weitergehen können, mit was auch immer. Da fällt einem dann mal wieder der Mann auf der in der eigenen Wohnung wohnt.

Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber wir haben beide sehr aneinander vorbeigelebt. Wir sind zwei zutiefst traumatisierte Menschen: Mitgefühl, Verständis und Aufmerksamkeit haben wir für uns alleine gebraucht - da war kein Platz für den Anderen. Ich hatte mich so sehr verändert, da kam auch der beste Ehemann von Welt nicht mehr mit. Ich war auf einmal voller Energie und wusste gar nicht wohin damit, weil ich keinen Fokus hatte auf den ich sie richten konnte. Außerdem war auch er mit seiner Trauer beschäftigt, auf seine ganz eigene Art und Weise. Wir waren unzufrieden, jeder aus anderen Gründen. Und angekotzt vom anderen (warum Dinge beschönigen).

 

Ich kann jetzt keine Statistik zitieren, aber ich glaube sofort, dass sich fast alle Paare nach dem Verlust eines gemeinsamen Kindes trennen.

Der Andere erinnert einen immer wieder an das was man verloren hat. Gemeinsam trauern ist schwer, wenn man so unterschiedliche Arten von hat. Es fühlte sich nicht nur einmal so viel leichter an, loszulassen als festzuhalten.

 

Aber: Ich bin stur. Und ich komme vom Dorf, ich habe eine gewisse Vorstellung von Ehe mitbekommen. Und ich wollte es ums Verrecken nicht einsehen, dass an der Stelle einfach Schluss sein soll. Denn ich hatte mich dafür entschieden ihn zu heiraten. Ja, das ist eine Entscheidung. Und jemanden zu lieben, sich immer wieder in ihn zu verlieben, ist ebenso eine Entscheidung. Man muss daran arbeiten, Nähe und Distanz immer wieder ausloten, dem Anderen die Möglichkeit zur Veränderung lassen und mit Interesse diesen neuen Menschen wieder kennenlernen. Und es bedeutet auch, dass man Dinge und Situationen manchmal einfach aushält. Was machen nach 50 Jahren guter Ehe schon zwei schwierige Jahre aus? Aber man muss diese zwei Jahre eben überleben. Und ein Licht am Ende des Tunnels sehen.

Das habe ich nicht nur versprochen, das habe ich verdammt nochmal auch unterschrieben.

 

Also entschieden wir uns dazu das Licht am Ende des Tunnels selbst zu schaffen: Wir gingen zu einer Paartherapie.

Wir redeten mal wieder richtig. Ehrlich. Ungeschönt. Auch wenn es wehtat. Und es tat oft und sehr weh. Ich wollte weglaufen, nicht nur einmal. Aber ich bin trotzdem geblieben, auch wenn ich nicht immer wusste warum. Es hat sich trotzdem immer richtig angefühlt.

 

Also bitte, liebe Freunde, versteht mich nicht falsch: eine Scheidung oder eine Trennung kann auch die richtige Entscheidung sein. Dinge passieren, das Leben verändert dich und manche Ehen/Beziehungen sind für alle Beteiligten einfach nur die Hölle. Ich selbst bin Scheidungskind und habe großes Glück bei meinen Eltern miterlebt zu haben und auch immer noch miterleben zu dürfen, dass man trotzdem eine Familie bleiben kann.

Wenn man den Respekt vor dem Menschsein des Anderen und den Wunsch dass es dem Anderen gut geht, verloren hat, ist es die richtige Entscheidung.

Wir haben uns immer beides bewahrt. Und ich habe nie die Überzeugung verloren, dass ich den richtigen Mann für meine Seite geheiratet habe.

 

Trennungen und Neuanfänge gabe es viele.

 

Ich habe viel hinter mir gelassen: einige Freunde, meine Kanzlei. Kein Abschied ging ohne Tränen.

Die Kanzlei vermisse ich heute noch manchmal. Dann lade ich mich da zum Mittagessen ein. Meine Ki habe ich bis heute behalten -  eine Frau auf die ich immer zählen kann und deren Worte mir viel bedeuten und immer helfen. Auch wenn manchmal Wochen vergehen bis wir uns wieder hören oder sehen, es ändert nichts an unserer Beziehung. Sie war die Erste die mir sagte, dass ich das alles schaffen kann, weil ich es einfach kann, weil ich stark genug bin. Sie hatte recht. Und sie hat bis heute immer Recht behalten.

 

Ich habe viel Neues begonnen: eine Ausbildung zur Buchführungsfachkraft habe ich absolviert, nun hänge ich eine Umschulung zur Steuerfachagestellten hinten dran.

Meine berufliche Odysee empfand ich früher als meinen Fehler, weil ich mich nicht enstcheiden konnte oder nie zufrieden war. Heute sehe ich es als einen Lernprozess - ich habe viele Dinge gesehen, habe mit vielen Menschen gearbeitet und es gibt wenig was mich noch wirklich beeindrucken kann. Ich habe so viel von der Welt gesehen wie wenige Menschen in meinem Alter. Ich mag vielleicht nicht qualifiziert auf dem Papier sein, aber dafür gebildet. Ist auch was.

Wir sind außerdem gefühlt einmal in der eigenen Wohnung umgezogen - machen Frauen so nach einem einschneidenden Erlebnis, habe ich mir sagen lassen. Das, oder sie gehen zum Frisör. Wir haben eine Höhle gebaut, genau angepasst auf unsere Bedürfnisse nach Heimeligkeit und Komfort. Der beste Ehemann von Welt geht wieder Projekten nach - im Augenblick ist es eine Photovoltaikanlage auf dem Dach und E-Autos unter dem Carport. Schön so.


Unser neues Wunder

Im März 2020 dann die Nachricht: Wir werden nochmal Eltern.

 

Ich war vollkommen überfahren. Denn wir haben es in den zwei Jahren zuvor so sehr versucht noch ein Kind zu bekommen. Temperatur messen, dieser unsexy Babysex der sich dann eben doch nach einer Weile einstellst und was weiß ich nicht alles. Jeden Monat die Enttäuschung das es nicht geklappt hat. Oder auch zwei Wochen die ich drüber war mit meiner Periode - und es dann doch wieder nichts war.

Irgendwann habe ich mich dann bewusst dazu entschieden, dass mir das nun egal sein muss. Ich hatte ein gutes Leben: Ich war wieder glücklich mit dem besten Ehemann von Welt, ich war in einer Umschulung und ich hatte eine Familie auch ohne leibliche Kinder. Ich zählte nicht mehr, ich mottete das Thermometer ein und ich machte wieder Party. Es ist ein Effekt der tatsächlich funktioniert: Wenn man lang genug so tut als wäre man etwas, dann ist man es auch irgendwann. Und ich war zufrieden damit, mir hat vorerst nichts gefehlt.

 

Es waren immer nur die kleinen Momente, die dunklen, unter meinen Kissen, wenn keiner zugeschaut hat, zu denen ich Richard so unendlich sehr vermisste und sich mein Leben ohne Kinder so sinnentleert anfühlte. Denn ich kannte ja nun den Sinn meines Lebens.

 

Anscheinend suchen sich Kinder immer genau solche Momente aus um dann doch zu kommen.

 

Heute fühle ich mich wieder hin- und hergeworfen: zwischen Glück und Angst.

 

Ich liebe meinen mittlerweile schon nicht mehr zu übersehenden Babybauch. Wenn ich früh aufwache, dann scheint auch der kleine Goldfisch in meinem Bauch aufzuwachen und erstmal umzuräumen. (Ich habe ihm den Arbeitstitel Knut-Inge gegeben, aber damit ist der beste Ehemann von Welt nicht so glücklich. Verstehe ich gar nicht.) Dieses Konzept von Menschen die aus Menschen kommen, ist für mich bis heute ein Wunder. Was sich die Natur da hat einfallen lassen, ist einfach verrückt.

Und ich habe schlimme Angst, dass ich jemanden wieder so sehr liebe wie ich Richard geliebt habe und dass er mir wieder einfach weggenommen wird. Ich glaube, nochmal kann ich das gar nicht überleben. Manchmal weine ich den ganzen Tag, manchmal starre ich nur die Wand an. Manchmal wünsche ich mir, dass ich das Baby einfach schon jetzt in den Armen halten kann, ich es anschauen kann und ich diesen Gefühlswust endlich hinter mir lassen kann. Ich würde mich so gern einfach unvoreingenommen darauf freuen. Und ich will kein Kind in meiner ständigen Angst oder meiner Trauer aufwachsen lassen.

 

Vielleicht ist es am Ende halt einfach so. Ich habe meine Geschichte. Mein Kind wird diese Geschichte in sich tragen und dann seine eigene schreiben, mit allem was ich ihm mitgebe. Und ich muss es nicht erst im Arm halten um es zu liebe. Ich liebe es schon jetzt. Und ich habe einfach vergessen, wie intensiv das sein kann. Wie sehr man eigentlich lieben kann, ganz bedingungs- und erwartungslos.

 

Und dafür bin ich schon jetzt dankbar.

In ewiger Liebe.